Tatsachen und Interpretationen

 

Ein leerer Bus kommt an eine Haltestelle, zehn Fahrgäste steigen ein. An der nächsten Haltestelle steigen elf Leute aus, und der Bus fährt weiter. Wissenschaftler und Gelehrte kommentieren das Geschehen.

 

Der Biologe:

«Ganz einfach! Die Fahrgäste haben sich vermehrt.»

 

Der Physiker:

«Zehn Prozent Messtoleranz müssen immer drin sein.»

 

Der Mathematiker:

«Wenn jetzt einer einsteigt, ist der Bus leer.»

 

Der Theologe:

"Was es heisst, sich um das verlorene Schaf zu bemühen, muss immer wieder reflektiert werden."

 

Der Philosoph:

«Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen»

 

Der spirituelle Meister:

"Das ist ein Koan."

 

 


 

Tanzende Wahrheit

 

Der Mensch ist ein philosophisches Tier. Wahrscheinlich das philosophische Tier schlechthin. Kein anderes Lebewesen denkt darüber nach, warum es das tut, was es tut. Soll ich Vegetarierin werden? Das überlegt sich die Löwin nicht.

 

Der Mensch ist ein Geistwesen, könnte man auch sagen. Neben allem anderen, was er auch ist. Geist zu haben, heisst, sich das Leben, die Dinge im Lichte von Vorstellungen vergegen-wärtigen zu können, Welten zu entdecken und zu erfinden. Dank unseren Kognitionen können wir zu grossartigen Ergebnissen kommen, die wir Erkenntnisse nennen. Leider begnügen wir uns, wenn es um den Wärmestrom des Lebens ginge, zu oft mit kalten Erklärungen. Und leider wäre es häufig auf etwas ganz anderes angekommen, als wir gedacht haben.

 

Ich bin überzeugt, dass es noch eine zweite Bedeutung von Geist gibt: Geist als unverfügbare Bewegung von woanders her. Altmodisch gesagt: so etwas wie Inspiration. Offenbarung. Lichtung. Oder schlicht: Borniertheitsdurchbrüche. Dieses Bewegtwerden kann uns dazu befreien, etwas zu ändern. Uns. Und damit eine Miniaturausgabe des Universums.

 

Was wir denn zu tun hätten, werde ich gefragt, damit wir dynamisiert, durchdrungen würden von solchen existentiellen Impulsen. Es wäre wahrscheinlich eher ein NichtTun. Ein Freilassen – Weder ins Aussen noch ins Innen vertieft. So können Antworten aufscheinen. Oder weiterführende Fragen. Zum Beispiel die, wofür denn das gut ist, was ich in meinem Optimierungswahn für gut halte. Oder die Frage, inwiefern ich meine Arbeits- und Lebenswelt, in der ich in meiner Endlichkeit wirken muss, als Gestaltungsaufgabe über das bloss Berechenbare hinaus wahrnehme.

 

Die Ahnung, dass es Erfahrungen gibt, die uns zum Umdenken und Ausbrechen aus der Verkrustung führen können, diese Ahnung gärt im philosophischen Tier – als die Anspornung zur Wahrheit, die wir «natürlich» nie einfach so haben werden. Die Sehnsucht nach der vollkommenen Erkenntnis nannte Platon Eros. Es wäre manchmal gut, wir liessen uns von diesem Eros leiten, wenn wir nach Erkenntnis streben, statt von Ideologien. Mit «Ideologien» meine ich starre weltanschauliche Gebilde. Es sind Panzerungen. Deshalb droht Krieg, wenn es um die Wahrheit geht, weil gewisse Wahrheitssuchende dazu neigen, sie gefunden haben zu wollen. Endgültig. Und sie dann gewaltsam verbreiten, ihre vermeintlich absolute Wahrheit. Sie sind vom Eros verlassen. Ihre Gedanken tanzen nicht, ihre Seelen sind verloren.

 

Aber gibt es sie denn nicht, die wirklich absolute Wahrheit? Absolut heisst losgelöst. Wovon sollte denn die Wahrheit losgelöst sein? Vom historischen Fluss der Ereignisse? Sie wäre dann gewissermassen im Himmel. Transzendent. Man könnte sie Gott oder Göttin nennen. Vielleicht ist das gar nicht so abwegig. Nur – was hilft es, uns die Wahrheit als ferne Statue vorzustellen?

 

Es gibt eine Erzählung, in der Prometheus die Göttin der Wahrheit aus Ton formt, während gleichzeitig Dolos, der Inbegriff eines Betrügers, an einer völlig gleich aussehenden Gestalt arbeitet, aber für die Füsse reicht ihm

der Ton nicht mehr. Prometheus schaut sich die beiden Figuren an, staunt über deren Ähnlichkeit und haucht beiden Leben ein.

 

Was geschieht im Folgenden? Die echte Wahrheit schreitet gemessen davon. Bleibt auch mal stehen, dreht sich um, tänzelt weiter. Auch die Zwillingsfigur, das Lügengebilde, erhebt sich, kommt aber nicht vom Fleck. Da haben wir’s: Die Wahrheit bewegt sich. Sie ist ein Prozess. Sinnorientiert: «Sinn» heisst ursprünglich Gang, Reise, Weg. Die Unwahrheit dagegen ist Stillstand. Erstarrung. Falscher Ernst.

 

Verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab! So ruft Nietzsches Zarathustra aus. Und er meint durchaus auch seelisches Tanzen. Und er meint die Heiterkeit des Geistes.

 

Und genau das wünsch’ ich uns. Dass wir trotz dem Ernst der Lage unverkrampft unterwegs sind. Spielerisch, aber nicht fahrlässig, sondern wahrhaft suchend. Von Eros, dem schönsten der Götter bewegt.

 

 

Martin Kunz

 

 


 

Ein paar Überlegungen zum Projekt Aufklärung heute

 

Warum ist Aufklärung ein Projekt? Weil ihre Anliegen noch nicht erfüllt sind und wohl kaum je erfüllt sein werden. Aufklärung ist der Wille, die Umstände, in denen wir leben, zunehmend nach Massgabe der Vernunft zu interpretieren, zu gestalten und zu verändern.

 

Die erste Aufklärung, die zur Zeit der Vorsokratiker anhebt, hatte das Anliegen zu zeigen, dass wir die Welt immanent erklären können, ohne die alten Götter, ohne die Verhältnisse als Schicksal hinzunehmen, ohne den Kosmos projektiv mit Wesenheiten auszustatten, die wir dann wiederum als Mächte zu erfahren glauben. Wir verfügen über Ratio, die die Verhältnisse durchschauen kann und will. Die Welt ist durch das Medium der Vernunft aus sich selber heraus zu verstehen, „physikalisch“, wenn auch nicht unbedingt ohne Metaphysik, nicht ohne jenes Denken, das das Seiende als Seiendes in Frage stellt.

 

Die zweite Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert setzte diese Radikalisierung fort. Als rational gilt in der Moderne, was argumentativ wohlbegründet ist und vom Subjekt, das sich seines Verstandes autonom denkend bedient, verantwortet werden kann. Wir haben im Prinzip die Fähigkeit, die Welt dank dem Verstehen der Ursache-Wirkung-Ketten immer stimmiger, also sogenannt wissenschaftlich, zu erklären.

 

Aufklärung auf diese zwei historischen Momente zu beschränken, ist natürlich eine Vereinfachung. So müsste u.a. auch die Renaissance thematisiert werden. In ihr entfaltete sich eine erotische Feier der Lebenskraft, die die Grenzen mittelalterlicher Abwehr sprengte, eine Art Vernunft des Bildes, ein Aufbegehren gegen neugierdelosen Glauben, eine Hinwendung zur Welt. Zu zeigen wäre überhaupt, wie zu allen Zeiten sporadisch Momente von Vernunft zum erklärten Bildungsziel wurden, wie Aufklärung zunächst für eine intellektuelle Elite, schliesslich sogar für alle thematisiert wurde. Als Beispiel erwähne ich die Stiftungsurkunde der Universität Wien von 1365, in der als Stiftungszweck das Gemeinwohl, gerechte Gerichte und das Wachstum von Vernunft und Bescheidenheit festgehalten ist. Jeder weise Mensch soll vernünftiger und jeder unweise zu menschlicher Vernunft gebracht werden.

 

Aufklärung wollte und will Klärung aller Verhältnisse im Lichte der Vernunft. Sie ist mythenkritisch, tritt gegen Erzählungen an, die das Getragensein in einem umfassenden menschlich-übermenschlichen Deutungsraum fraglos behaupten und in dem Zweifler, Kritiker, Häretiker zu schweigen haben. Sie tritt gegen Aberglauben an.

 

Aufklärung kann bescheiden und emphatisch verstanden werden. Bescheiden etwa so: als die Tradition des zur Routine gewordenen Mutes zur unaufgeregten Nüchternheit (Odo Marquard). Anspruchsvoller wäre dagegen ein Verständnis, das Aufklärung versteht als Sabotage des Schicksals: Lasse dir von niemandem einreden, das einmal Gesetzte sei unumstösslich. Emanzipation aus Bevormundung, Befreiung von zu Unrecht als letztgültig Behauptetem ist das Ziel. Daraus folgt dann der Kampf gegen jene, die, was sie nicht verändern wollen, naturalisieren oder mit „göttlichen“ Gesetzen, heiligen Büchern, Berufung auf Autoritäten usw. zu verewigen trachten und intellektuellen und politischen Aufbruch torpedieren.

 

In Friedrich Schillers Don Carlos hält Marquis Posa dem König entgegen, dass nicht nur der König König sei, jeder soll König über sein eigenes Leben werden. Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. Des langen Schlummers Bande wird er brechen…Geben Sie Gedankenfreiheit! Der König aber murmelt: Sonderbarer Schwärmer!

 

Aufklärung heisst: den Blick zu schärfen für verschleiernde Argumentationen und den Mut aufzubringen, sich dagegen zu wenden – im Namen der Vernunft. Vernunft ist die Instanz, die Normen argumentativ begründet, Normen, die grundsätzlich die Befreiung des Menschen aus selbst- und fremdverschuldeter Unterdrückung ermöglichen sollen. Allerdings: Was Vernunft ist, war schon unter den alten Aufklärern umstritten. Vernunft ist von Anfang an Vernunftkritik. Immerhin haben ihre Bestimmungen im Verlauf der Zeit einen ganzen Katalog von Deklarationen und Forderungen hervorgebracht.

 

Zum Programm von Aufklärung gehört im Wesentlichen Folgendes:

 

1

 

Wir Menschen sind vernunftfähig, aber Vernunft ist nicht einfach gegeben. Sie bedeutet Arbeit. Zu fragen ist immer wieder, was Vernunft eigentlich ist, und wie das Woher zu fassen ist, von dem her sie sich selber in Frage stellen kann und muss.

 

2

 

Wir Menschen sind freiheitsfähig. Auch Freiheit ist nicht einfach gegeben. Sie hat zahlreiche immer wieder zu erarbeitende Facetten und sie ist im Zusammenspiel mit Gerechtigkeit zu gestalten. Immanuel Kant formuliert einen wesentlichen Aspekt der individuellen Freiheit elegant: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art glücklich zu sein…

 

3

Wir haben Würde, die uns von Dingen und wohl auch von andern Lebewesen abhebt. Sie ist sowohl Wesensmerkmal wie kultureller Gestaltungsauftrag. Was aber ist eigentlich gemeint mit dieser Würde?

Früh begründet wurde sie vom Aufklärer und Naturrechtsphilosophen Samuel von Pufendorf (1632–1694), der so argumentierte: Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.

 

4

Wir - das heisst: jeder einzelne ist als mündiger Bürger in hohem Masse verantwortlich für seine Lebensgestaltung.

 

 

5

Wir sind verschieden. Trotz dieser Verschiedenheit bestehen Formen von Gleichheit:  Gleichheit besteht 1. im Recht auf toleriertes Andersseindürfen, 2. im Anspruch auf Gleichstellung vor dem Gesetz, 3. im Recht auf die Möglichkeit zur Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen und auf den Zugang zu den Institutionen im Sinne der Chancengerechtigkeit.

 

6

Wir haben das Recht auf Bildung, insbesondere auf Informationen, die dazu dienen, die Welt wissenschaftlich zu erklären.

Was Wissenschaft ist, steht nicht einfach fest. Grundsätzlich sind wir uns einig, dass es dabei um ein begründetes, geordnetes Hervorbringen von Erkenntnissen geht, die so kommunizierbar sind, dass sie überprüft werden und den Anspruch von überpersönlicher Geltung erheben können.

 

7

Wir müssen uns selber und einander ermutigen, autonom zu denken. Was Autonomie ist, haben wir immer wieder zu klären.

  

8

Wir haben die Pflicht zu überlegen, was Solidarität heisst, und haben das Ergebnis unserer Überlegungen mit der Schaffung von Institutionen und in individuell gelebten Formen lebenspraktisch umzusetzen.

 

 

9

Wir haben unsere Kommunikations- und Umgangsformen im Rahmen der Tradition des Humanismus, der Menschenrechte, der demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln zu gestalten.

Zu fragen ist darüber hinaus, ob es so etwas wie ein Gewissen gibt, eine Instanz, der wir gleichsam Numinosität beimessen dürfen und die über jedem bürgerlichen Kodex steht.

 

10

Wir sind die Erfinder und Gestalter der Institutionen. Diese sind für die Menschen da und nicht umgekehrt. Der Aufbau, die Struktur und die Machtverhältnisse von gesellschaftlichen Einrichtungen müssen transparent sein. Den politischen Akteuren ist die Macht nur geliehen.

 

 

11

Wir haben immer wieder politisch zu klären, was die Funktion des Staates sein soll. Eine seiner Hauptaufgaben ist das Verhindern von Grausamkeit. Die Herleitung seiner Wertebasis muss unabhängig von religiösen Überzeugungen stattfinden.

 

 

12

Wir haben als Individuen das Recht auf eine gewisse Intransparenz, auf Refugien der Privatheit. Das Private ist jener Bereich, zu dem nur ich Zugang habe und allenfalls jene, denen ich Zugang gewähren will.

 

13

Wir haben das Recht auf individuell gewählte Sinndeutungen, für deren Ausgestaltung Individuen und Gruppen Anspruch auf Toleranz haben. Toleranz heisst: Ich teile deine Meinung nicht, aber ich würde dafür kämpfen, dass du sie ungestraft vertreten darfst – mit immer wieder zu diskutierenden Einschränkungen.

 

 

14

Wir sind zusammen mit nicht-menschlichen Lebewesen Mitbewohner von Systemen auf einem beschränkten Planeten. Wir haben uns die Frage zu stellen, was es heisst, Respekt zu haben vor dem Lebensrecht anderer Lebewesen.

 

Vergessen wir nicht: In weiten Teilen der Welt sind diese Ansätze nicht vorbehaltlos akzeptiert. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht in Fragen von Religion, Glaube und Weltanschauung ist der Tradition vieler Länder fremd, die Errungenschaften von Demokratie, Rechtsstaat und Bildung entweder noch nie erreicht oder pervertiert. Wir Vertreter der Werte der Aufklärung halten diese für universalisierbar. Leider müssen wir feststellen, dass selbst im abendländischen Raum in gewissen Kreisen an diesen Werten gezweifelt wird - und nicht nur gezweifelt: Mit dem Schüren von Ängsten und einem Repertoire von Theorien, die dem Projekt Aufklärung zuwiderlaufen, werden berechtigte Bedürfnisse nach emotionaler Identifikation von Bürgerinnen und Bürgern missbraucht.

 

Pluralismus, Freiheit, Solidarität und Toleranz – diese Grundsätze liessen als gelebte die Menschheit menschlicher werden. Sie müssen politisch erkämpft, aber nicht despotisch durchgesetzt werden.

 

(Martin Kunz, Auszug aus: Ist Vernunft mehr als eine Fackel in einem Kerker? Zürich 2015)